Kräftemessen in der Brandungszone
Eine Anmerkung zu den Zeichnungen von Mia Unverzagt
In Zeichnungen können Aspekte eines Menschen Bedeutung bekommen, die das Licht anderer künstlerischer Medien eher scheuen. So ist es auch im Fall der Zeichnungen von Mia Unverzagt, die sie selbst die andere Seite ihres Schaffens nennt, den dunklen Teil ihrer sonst sehr von der Idee kommenden Kunst.
Die Aspekte, die da Bedeutung wollen, lassen sich durch Worte nicht ersetzen – es sind Ängste oder Aggressionen, Verletztheiten, Verliebtheiten und andere Zustände der Seele, wie sie tief in jedem von uns wurzeln. Auch in den Zeichnungen allerdings treten diese Aspekte nicht mit Eindeutigkeit auf. Es scheint vielmehr, als müsse jeder Schritt in die Sichtbarkeit durch eine entgegengesetzte Bewegung auf - oder vielmehr abgefangen werden - eine Bewegung die wieder verunklärt, was eben deutlich zu werden drohte.
Nehmen wir zum Beispiel ein Blatt, das am 19.Februar 2000 entstand. Vor einem Grund, den mit Bleistift oder Kohle verschmierte Finger aufgewühlt haben, tritt uns in Umrissen eine Halbfigur entgegen: an der Stelle ihres Gesichts allerdings sitzt ein schwarzer Fleck. Ein zweiter, länglicher und eben so dunkler Fleck, ragt auf Brusthöhe der Figur vertikal aus dem Nichts empor. Es scheint, als betrachte die Figur den länglichen Fleck mit großer Aufmerksamkeit. Zumindest lässt ihre leicht vorgebeugte Haltung eine solche Vermutung zu.
Einst mag da ein Gesichtsausdruck sichtbar gewesen sein, der uns etwas über das Verhältnis der Figur zu dem Ding vor ihr hätte verraten können – jetzt aber ist alles hinter einer Maske verborgen. Sind wir hier Zeugen eines freudigen Zusammentreffens? Oder beobachten wir einen Vorgang der Ansteckung, sind doch das Ding und das Gesicht gleichermaßen schwarz?
Haben wir es mit einer Begegnung in einem Traum zu tun? Oder mit der Illustration einer uns unbekannten Legende? Auf irritierende Weise wirkt die Darstellung symbolhaft – und doch können wir nicht sagen, was sie denn symbolisiert. Hier wird allerlei gezeigt – und doch nichts verraten.
Auch auf einem Blatt, das vom 20. Juni 2001 datiert, sehen wir wohl ein Gesicht, dessen Ausdruck sich hinter allerlei Formen verbirgt. Im Unterschied zu der früheren Zeichnung allerdings sind diese Formen hier wesentlich komplizierter und bestehen aus einer Vielzahl von Strichen in unterschiedlichen Farben. Auch scheint da aus der rechten Hälfte des Gesichts
Eine Figur heraus zu wachsen, die ein wenig wie ein aufrecht stehender Löwe, ein Bär oder auch ein Affe wirkt. In die linken Hälfte des Gesichts wiederum ragen Elemente hinein, die eher an Landschaften oder an seltsam fremde Körper erinnern. Schien das Blatt aus dem Vorjahr eher ein Moment unmittelbar vor dem Zusammentreffen verschiedener Elemente zu zeigen, so hat der Kontakt hier schon stattgefunden, sind die Dinge längst aufeinander geprallt, ineinander verkeilt. Diese Zeichnung erinnert an jene Momente im Leben, in denen sich keine Hierarchien in unseren Gedanken bilden, in denen uns alle gleichermaßen bedeutend oder auch banal erscheint. Da taucht eine Idee auf um sogleich von einem anderen Bild überdeckt zu werden – dort folgen wir einer Spur, um uns alsbald in die Gegenrichtung mitreißen zu lassen. So unfruchtbar uns solche Momente manchmal auch erscheinen – in dem Nest, dass wir im Zickzack unserer Gedanken häkeln, können plötzlich auch Dinge sichtbar werden, die wir bei klarem Gedanken-Wetter nicht zulassen würden. Denn so wie wir uns vielleicht nur in Gesellschaft von Freunden in ein fremdes Land vorwagen, so wagen sich auch einige Aspekte unserer Persönlichkeit nur in maskierter Form und in Begleitung vieler anderen Aspekt aus dem Dunkel des Verdrängten in das Licht unserer Gedankenwelt.
In vielen Zeichnungen von Mia Unverzagt schaffen die Striche und Gegenstriche die Setzungen und Übermalungen eine solche Gesellschaft, in der sich Dinge vorwagen können, die sonst unsichtbar bleiben müssten. Wie erwähnt heißt das nun keineswegs, dass die Zeichnungen ein gleißendes Scheinwerferlicht auf diese lichtempfindlichen Aspekte menschlichen Daseins werfen würden.
Im Gegenteil: was allzu deutlich werden will, was am Strand der Eindeutigkeit aufzulaufen droht, muss wieder in den Ozean des Vieldeutigen hinausgezerrt werden.
Was beleibt, ist eine Spur dieses Kräftemessens im Brandungsbereich – eine den Zeichnungen immanente Spannung, die uns eine Ahnung von den Polen gibt, zwischen denen sie sich entwickelt hat.
Samuel Herzog