Prof. Dr. Wulf Herzogenrath - Sich treffen um...
Zu den schönsten Aussagen von Künstlern gehört der Satz: „Ich suche nicht, ich finde“ – wem auch immer er zugeschrieben wird, vielleicht beschreibt er die Grundlage künstlerischen Tuns präzis wie kaum eine langatmige Interpretation.
Doch was finden wir nicht alles während des Tages, ja, und wenn man den Satz richtig versteht, gehört auch der Traum in der Nacht ebenso in das Feld, in das sich der Mensch unabsichtlich, aber aufmerksam wahrnehmend begibt.
Wenn wir dieses Finden nunmehr auch wörtlich nehmen, in dem Sinne, dass der Künstler nicht eigentlich gestalten will, sondern Vorhandenes sieht, aufsammelt und dann zu einem Werk in neues Licht rückt, dann müssen wir dies in den ersten 1910er Jahren datieren, als Georges Braque in den Fensters eines Farbenhändlers in Avignon die Holz nachahmenden Papiertapeten entdeckt – und diese dann wiederum auf die Leinwand in seine kubistischen Bilder klebt oder Marcel Duchamp ein Urinoir um 90 Grad dreht auf einen Sockel stellt und signiert einer Ausstellungsjury vorlegt. Das „Objet Trouvé“ trat seinen Siegeszug an, und die Dadaisten waren fasziniert von naturwissenschaftlichen Maschinen. Die Surrealisten ließen sich von Leautremants Sprach-Bild „die zufällige Begegnung eines Regenschirmes mit einer Nähmaschine auf einem Seziertisch“ anregen, wie die POP-Artisten von den banalen Konsumgütern.
Ein Objekt hat es den Künstlern – ganz abgesehen von den Gestaltern, Designern, Architekten, Ingenieuren u.a. - besonders angetan: der Stuhl. Wie viel Tausende von Varianten, Materialien und Formen dies es eigentlich so funktional einfache Objekt es gibt und auch in Zukunft geben wird, es ist klar, dass ein Stuhl eben nicht nur zum Sitzen da ist. Wie jedem klar ist, dass der Tisch dann zum Stuhl wird, wenn man sich darauf setzt, so soll wenigstens daran erinnert werden, dass Germanisten das germanische Stammwort für „stehen“ im Stuhl versteckt sehen wollen, was die Definition nun wirklich nicht einfacher macht.
Das wir von der Kathedrale als „Sitz Gottes“ sprechen, belegt immerhin, dass der Stuhl als Thron zu den Insignien des Herrschers, des Richters, des Bischofs gehört – also genauso Machtsymbol sein kann, wie ein Statussymbol, ein Ausweis eines bestimmten Geschmacks. Der Stuhl sagt viel über die Psyche des Be-Sitzenden aus.
Als Mia Unverzagt während ihres Havanna-Aufenthaltes auf immer wieder neue alte Stühle stieß, die von ihren Besitzenden nicht nur mal eben benutzt wurden, sondern oftmals Teil ihres Alltags waren, war ihr Interesse geweckt. Einer der Stühle hat eigentümliche Ausbuchtungen, weil der Nutzer beim Gitarrespielen den Arm an einer bestimmten Stelle auflehnen wollte, oder der bisher eher schmale Rücken des Stuhles mit einer Verbreiterung durch einen Plastikschalen-Sitz viel komfortabler wurde. Mag manchmal auch die Armut der Besitzenden zu scheinbaren Not-Lösungen und neuen Kombinationen geführt haben, eher die Funktionalität, ja vielleicht doch auch die Assemblierung von Farben, Materialien führten zu für unsere Vorstellungen sachlicher Funktionalität skurilen Formen.
Nunmehr unterhielt sich Mia Unverzagt mit den Besitzern der Stühle, erfuhr von persönlichen Geschichten rund um die Vorleben der Stühle und begann die Kreativität der Kombinationen und gewagten Konstruktionen zu bewundern. Sie sieht ihre Arbeit nicht als soziologische Feldforschung an oder gar als politisches Statement über die Armut der einfachen Bevölkerung Havannas, sondern als eine Hommage an Phantasie und Kreativität. Vergleichbar mit einen Pablo Picasso, der einen Fahrradlenker sogleich auch als die Hörner eines Stieres sehen und in einer Assemblage umwandeln konnte – oder eben Marcel Breuer, der beim Fahrradfahren und dem gebogenen Fahrradlenker die Idee für die Stahlrohrbiegung für Stühle (den berühmten „hinterbeinlosen“ Thonet-Stuhl) hatte!
Wenn Mia Unverzagt nunmehr diese kubanischen Stühle – nach einer Präsentation in Kuba, zu der sie alle ehemals Besitzenden ebenfalls einlud – unter den Titeln „Sich treffen, um am Beispiel zu lernen“, „Sich treffen, um das Konzept zu besprechen“, „Sich treffen, um die Komposition zu verstehen“ und „Sich treffen, um über den Kontext zu diskutieren“ in europäischen Kunsträumen ausstellt, dann verfremdet sich die Aura des Stuhles allein schon durch die Tat der Künstlerin und den Kontext des „white cube“, der doch klar definierten Kunstform. So gesehen war ihre Antwort auf die eher erschreckte Frage des Zollbeamten, der diese Objekte beim Einführen taxieren sollte: „Es sind Materialien, aus denen ich später Kunst machen werde“. Die kleine Unrichtigkeit, dass die Künstlerin in ihrem Kopf sie schon längst zur Kunst gemacht hatte, sei hier verziehen, denn für den Zollbeamten konnte es so noch nicht klar sein, erst, wenn er - vielleicht auch irritiert – dieselben Objekte dann in einem Kunstkontext betrachtete.
Wenn wir auf die Kölner Möbelmesse oder in die avantgardistischen Design-Shops gehen, dann treffen wir seit einiger Zeit auf einen neuen Trend: Assemblagen recycelter Objekte, die zu neuen, nur noch im weitesten Sinne erkennbarer funktionaler Objekten umgearbeitet wurden. Zugleich erleben wir mit Staunen wie ein Glastisch von Carlo Molino aus dem Jahre 1949 bei Christies für 3 Mio Euro versteigert wurde oder Marc Newson´s „Lockheed Lounge“ (sichtbar auch in Madonnas Videoclip zu „Rain“) heute 1 Mio Dollar kostet -, vor wenigen Jahren noch für ca. 10.ooo zu haben. Hier werden Objekte, die wir bislang eher Möbel nannten, für Kunstwerke gehandelt, während Mia Unverzagt vorhandene, bis dahin auch funktionale Stühle zu Objekten einer konzeptuellen Kunst der Kommunikation verwandelt.
Jeder einzelne Stuhl dieser vier Runden erzählt in seinen Formen, Materialien und seinem Zustand Geschichten, die wir Betrachter assoziieren können, ganz abgesehen von unserer pragmatischen Rückfrage nach der Bequemlichkeit und der Funktionalität. Die Darstellung von Vergänglichkeit und Nutzformen ist hier unaufdringlich gelungen. Mia Unverzagt braucht keine soziologischen oder pädagogischen Thesen, diese Objekte erzählen von gelebtem Leben mit Witz, Phantasie, und sie schöpfen aus einer prallen Fülle, die selten so direkt und eindeutig empfunden werden kann.
Die Stühle transformieren sich und unsere Wahrnehmung von Kunst und Leben, von Gegenwart und Vergangenheit, von Funktion und künstlerischer Aktion.
Prof. Dr. Wulf Herzogenrath