Sebastian Neußer - Es geht nicht nur ums Ganze

                                                     Es geht nicht nur ums Ganze

 

Die bildende Kunst verbindet aktuell ein Merkmal, das in seiner Radikalität Ergebnis der Entwicklungen des letzten Vierteljahrhunderts ist. Egal ob Malerei, Zeichnung, Fotografie, Skulptur oder Performance - man gibt sich weitestgehend unpolitisch und jeder Versuch der kritischen Bezugnahme wird als rückständige Haltung abgestraft. Provokation ist willkommen, aber bitte keine Politik, denn das ist Kitsch, so scheint das derzeitige Diktum zu lauten. Im 20. Jahrhundert folgte eine Avantgarde auf die nächste und jeweils von neuem galt alle Anstrengung der Befreiung aus alten Fesseln. Ständig operierte man im Dienste wechselnder Interessen. Inzwischen aber genießt die Kunst eine Autonomie, die vehement verteidigt wird. Keinesfalls sollte der schwere Schimmer einer persönlichen Überzeugung die glatte Oberfläche des politisch orientierungslosen Werks trüben. Die Künstler/innen bemühen sich vor diesem Hintergrund meist unbeholfen, die Eigendynamik ihrer Werke anzupreisen und neben ihnen zu verstummen. Nach anfänglicher Euphorie macht sich spürbare Ernüchterung breit. Es beginnt die Suche nach Sinn, Relevanz und der Beziehung zwischen Kunst und gesellschaftlicher Realität.

Zynismus und Ironie boten noch in den 1980er Jahren die Möglichkeit, sich durch die Hintertür und unter dem Deckmantel der subversiven Unterwanderung einem Thema zu nähern. Diese künstlerischen Strategien erlaubten es, wenn auch ein wenig verschämt, Position für oder gegen etwas zu beziehen, doch sie haben ausgedient. Die Kunst ist vielerorts harmlos geworden – sie schadet weder sich selbst, da sie vom nichtkommerziellen Off-Space bis zum konzernfinanzierten Großmuseum universal einsetzbar ist, noch schadet sie anderen, da sie sich der allzu deutlichen Stellungnahme entzieht. Jutta Held erkannte die durchaus missliche Lage des ehemals revolutionären Mediums und stellte fest, dass die politische Stellungnahme und sogar der Bezug auf politische Ereignisse heute als Ausdruck künstlerischer Naivität gewertet werden. Durch die Formulierung einer Gegenposition zum kapitalistischen Status Quo, so ihr Resümee, gibt sich die Kunst der Lächerlichkeit preis.[i]

Der Titel Es geht nicht nur ums Ganze ist in leicht gewandelter Form einer Schrift Herbert Marcuses entliehen, die Ende der 1960er Jahre die Sozial- und Kulturwissenschaften intensiv beschäftigte.[ii] Seine kritische Betrachtung der Gesellschaft bezieht sich auf die Gesamtheit der Individuen, Gruppen und Institutionen, auf ihre Funktionsweisen, ihre Geschichte und vor allem die vielschichtigen Interaktions- und Konfliktprozesse – es ging ihm ums Ganze. Sozialer Wandel, so seine Argumentation, wird systemisch verhindert, da politische Bedürfnisse der Befriedigung des ökonomischen Gemeinwohls untergeordnet sind. Fast möchte man daran erinnern, dass die Kunst auf eine lange Geschichte der politischen Auseinandersetzung zurückschaut, das jedoch offensichtlich mit gemischten Gefühlen. Mia Unverzagts künstlerische Arbeiten lassen sich einerseits in der Tradition einer kritischen Theorie der 1960er Jahre verorten und aktualisieren andererseits feministische Ansätze, die insbesondere in den 1970er Jahren prägend waren. Ihre fotodokumentarischen Projekte, inszenierten Fotoarbeiten, Zeichnungen und Rauminstallationen verbindet der Versuch, gesellschaftliche Bruchstellen zu visualisieren, den Blick auf die Irrationalität des Ganzen zu richten und die Konventionen der fotografischen Bilder zu testen. Mit ihrer explizit kritischen Herangehensweise weigert sich die Künstlerin, einfache Rezeptionsmuster zu bedienen und den Status quo als gültigen Zusammenhang zu akzeptieren. Konfrontationen, Bewusstmachung und die Aufdeckung lähmender Strukturen stehen dabei im Vordergrund.

Ihre Kunst bekennt sich zu einer politischen Funktion und versucht, das gesellschaftliche Bewusstsein für die Diskrepanz zwischen dem Gegebenen und dem Möglichen zu schärfen. Der Schein des schönen Bildes wird attackiert: Die Künstlerin nutzt eine analoge Kleinformatkamera, deren Aufnahmen eine Körnigkeit auszeichnet, die den Produktionsprozess ins Bewusstsein ruft. Auf digitale Bearbeitungen oder aufwendige Ausleuchtungen wird verzichtet. Nicht selten zerschneidet, perforiert, bestickt oder beklebt sie die Abzüge und präsentiert diese ungerahmt, um der fotografischen Materialität Ausdruck zu verleihen. Sie beleuchtet auf manchmal verstörende Weise den scheinbar glatten Ablauf des Ganzen. Besondere Bedeutung hat für sie das individuelle Gefangensein in persönlichen, familiären, geographischen, geschlechtsspezifischen und nationalen Präformierungen. Mit ihrer kritischen Kunst hinterfragt sie den Zustand des Menschen in unserer Gesellschaft; dabei führen Ihre Fotografien weder Momente des individuellen Niedergerungenseins vor Augen, noch geben sie didaktisch Wege der Befreiung vor. Ihr Interesse gilt den Regungen des Widerstands, die einen Blick auf bestimmende Strukturen ermöglichen. Für Jacques Rancière ist Kunst im revolutionären Sinn „widerständig“, wenn sie mit Blick auf ein Ende arbeitet, das sie nicht selbst erreichen kann und mit Blick auf ein Volk, das noch fehlt.[iii] Versucht Kunst, gesellschaftliche Problemlösungen vorzugeben, so versucht sie, Politik zu imitieren und ist zum Scheitern verurteilt, da die eigenen Möglichkeiten verkannt werden. Gerade der unbestimmte Moment des Auflehnens transportiert eine Kraft zur Neuorientierung, die für die Transformation der eigenen Wirklichkeit genutzt werden kann. „Zu sagen, dass die Kunst widersteht bedeutet also, dass sie ein ständiges Versteckspiel zwischen der Kraft der sinnlichen Äußerung der Werke und ihrer Bedeutungskraft ist.“[iv]

 

Die Blumen ohrfeigen (2010)

Unsicher schaut die Frau in die Kamera; ihr zaghaftes Lächeln überspielt kaum das Unwohlsein in der eigenen Haut. Der Entschluss zu einem wenig alltäglichen Vorhaben wurde getroffen und nun gilt es, die Sache erhobenen Hauptes durchzuziehen. Der Plan sieht vor, das Alpenveilchen in rosafarbener Blüte und Zierübertopf zu schlagen, doch dezenter Goldschmuck an Hals und Ohren sowie ein farblich zum Projekt abgestimmtes Twin-Set lassen vermuten, dass in diesem Wohnzimmer mit Schrank-Vitrinen-Kombination in „Eiche rustikal“ Gewaltausbrüche gegen Mensch, Tier oder Grün nicht zum guten Ton gehören. Pflanzen, wie auch die Stickereien der ordentlich gelegten Tischdecke zu erkennen geben, schmücken Heim und Garten und sind Zeichen einer liebevollen Hand, die den manchmal tristen Alltag zu erhellen weiß. Fast zärtlich umsorgt der grüne Daumen die heimische Flora und verschwendet keinen Gedanken an verlorene Zeit und Mühen.

Man möchte es hübsch haben, um sich nach getaner Arbeit an der Wohnlichkeit der eigenen vier Wände zu erfreuen. Nur der stete Einsatz, so weiß man, garantiert nachhaltig erfolgreiche Haushaltsführung. Das Alpenveilchen ist traditionell der Deutschen liebstes Blumenkind, auch wenn die Orchidee ihm seit einigen Jahren den Rang abläuft. Die günstige und pflegeleichte Zier des Kaffeetisches ist mit ihrem hochalpinen Namensvetter kaum noch verwandt, denn nur die scheinbar schönsten und vor allem widerstandfähigsten Züchtungen sind den harten Bedingungen des Alltags gewachsen. Die Ökonomie des modernen Lebens verlangt Gewächs, das Zimmertemperaturen um die 20 Grad mag, mäßigen Sonnenschein bevorzugt und hin und wieder auch ein verlängertes Wochenende in Trockenheit übersteht.

Die Blume erscheint als Alter Ego der Eigenheimbewohnerin, der als kleines Mädchen sicher auch diese oder andere Veilchen-Weisheiten in das wie einen Schatz gehütete Poesiealbum geschrieben wurden: „Sei wie das Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und rein und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.“ Für Herbert Marcuse sind die Bedürfnisse der modernen Konsumgesellschaft „falsche Bedürfnisse“, deren Befriedigung im Überfluss zu einer „Euphorie im Unglück“ führt.[v] Glück, Unglück, Freude, Entspannung, Liebe und Hass erfolgen nur im Einklang mit bürgerlichen Maßvorgaben und jede Abweichung wird gesellschaftlich geahndet. Die Schläge der Frau widersprechen nicht etwa herrschenden Wertvorstellungen, weil Gewalt grundsätzlich kein probates Mittel wäre. Das Problem liegt vielmehr darin, dass die Gewalt sich in diesem Fall einen Weg außerhalb der gesellschaftlichen Logik sucht. Das Ohrfeigen der Blume ist nicht bloß sinnloser Akt der Zerstörung, sondern erweckt Unbehagen, da es den Frieden bürgerlicher Konfliktfeindlichkeit stört.

 

Du wartest bis du gerufen wirst (2010)

Auf den ersten Blick ist alles beinahe so, wie man es sich in Kindertagen erträumte: die Villa Kunterbunt mit der hölzernen Veranda, bewohnt von Pippis Schimmel, dem man in der späteren Verfilmung Flecken auf das Fell sprühte und ihn „kleiner Onkel“ nannte; Tommy und Annika, die wieder einmal auf Besuch dem liebevollen Spießbürgertum des eigenen Elternhauses entfliehen; ein romantisch verwilderter Vorgarten, der an laue Sommerabende in Schweden erinnert und Tante Prüsseliese, die in verlässlicher Regelmäßigkeit das anarchistische Idyll stört, um Pippi bzw. Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf der Obhut des städtischen Kinderheims zu unterstellen. Doch dieses Haus in tristem Grau erinnert nur an eine Sehnsucht nach der weltbekannten Immobilie aus Astrid Lindgrens Kinderbuch. Die Fenster sind teilweise vernagelt, die Balken ein wenig zu morsch und an der rückseitigen Grundstücksgrenze stört ein roter Backsteinbau in Neubaunorm das Bild. Das Ganze ist nur Fassade und Kulisse, vor der ein Mädchen und drei Jungen in bemühter Verkleidung gelangweilt, wortlos und ernüchtert versuchen, den Schein des Ideals zu wahren.

Man vermisst die sorglose Leichtigkeit der literarischen Quelle, die Pippi Langstrumpf zu einem der beliebtesten Kinderbücher machte. Dieser Erfolg kam nicht von ungefähr, wurde doch die Realität des gewöhnlichen Kinderalltags auf den Kopf gestellt. Pippi lebt oder haust allein, wenn man den bürgerlichen Wertmaßstäben folgt. Sie besitzt Pferd, Affe, einen großen Goldschatz und ist zudem stärker als all ihre erwachsenen Widersacher. Niemand, der ihr Vorschriften machen könnte, da die Mutter tot und der Vater weit entfernt König in der Südsee ist. Ihre Welt ist ein Gegenbild zur starren, patriarchalen Gesellschaftsordnung, in der Väter einem geregelten Beruf nachgehen, Mütter für Heim und Kinder sorgen, Kinder dazu erzogen werden, gute Väter und Mütter zu werden und die Wahrung des schönen Scheins oberste Maxime ist. Es gibt wohl kaum ein Kind, dem nicht die Maßregelung der Eltern oder Lehrer vertraut ist, zu warten, bis man gerufen wird. Für beide Seiten ist es ein beschwerlicher Weg, die kindlichen Impulse zu formen, bis sie passgenau den gesellschaftlichen Rahmen füllen. Nach einem langen Tag der Ge- und Verbote liest man dem Nachwuchs widersinnigerweise vor dem Schlafen die Geschichte der unbeugsamen Kapitänstochter vor und präsentiert ein scheinbares Gegenbild zur gelebten Moral. Bei genauer Betrachtung steckt in Pippi jedoch eine gehörige Portion Bürgerlichkeit. Zwar lebt sie allein, doch verliert sie sich nicht im Chaos, da die frohen Putzorgien mit Bürsten an den Füßen zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehören. Alles funktioniert, wenn auch auf manchmal etwas unkonventionelle Weise, reibungslos und immer noch im gesellschaftlichen Rahmen. Ihre Freiheit verdankt sie nicht zuletzt dem Goldschatz des liebevollen Vaters, dem niemand böse zu sein scheint, dass er für die Kariere in der Ferne seine Tochter ihrem Schicksal überlässt. Kaum einer hätte Verständnis für eine Mutter, die ihr Kind zurücklässt, um Königin in der Südsee zu sein. So musste sie sterben, um die Geschichte mit der brüchigen Moral zu versöhnen, die den jungen Leserinnen und Lesern vermittelt werden soll. Die inszenierte Entmystifizierung der heilen Welt von Pippi, Tommy und Annika erinnert daran, dass einseitige Idealisierungen gesellschaftlicher Entwürfe kein probates Mittel sind, Konflikt und Widerspruch als notwendige Aspekte des Zusammenlebens zu eliminieren.

 

¡Esta Bonito! ¿Es peligroso? – ¡Como no! (2009)

Das Hadern mit der Macht fremdbestimmter Prägung thematisiert die Zeichnung ¡Esta Bonito! ¿Es peligroso? – ¡Como no! (2009). Ist das schön! Ist es gefährlich? - Natürlich! lautet der Titel, der eine Laien-Grundrisszeichnung begleitet. Die Organisation des Wohnraums richtet sich in modernen Gesellschaften nicht vornehmlich nach den persönlichen Bedürfnissen der Bewohnenden, sondern nach den Maßgaben eines möglichst effizienten Tagesablaufs. Lebensraum, der unbestimmte Freiräume vermissen lässt, ist zur bloßen Grundlage produktiver Wertschöpfung degradiert. Leben in normierten Wohneinheiten wird allgemein nicht als schwerwiegende Beschneidung des persönlichen Freiraums wahrgenommen. Das wahre Bild unserer Gesellschaft, so Marcuse, ist ein „circulus vitiosus“; ein Teufelskreis, in dem sich alles von allein in zuvor festgelegter Richtung erweitert und genau diejenigen Bedürfnisse produziert werden, die Gesellschaft in der bestehenden Form befriedigen kann.[vi] Architektonisch äußert sich dieser Umstand darin, dass die überwältigende Mehrheit der Grundrisse für Wohnraum absolut vergleichbar ist. Küche, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Wohnzimmer und Bad geben nicht nur den engen Rahmen der Nutzungsmöglichkeit vor, sondern prägen auch die tief verwurzelte Vorstellung einer statistisch angemessenen Familiengröße von 3,3 Personen. Wirkliche Wahlmöglichkeit scheint nur noch bei der familiären Ergänzung durch Hund, Katze oder Goldfisch zu bestehen, wenn nicht der Wohnungsmietvertrag selbst die Kleintierwahl regelt. Obwohl sich die Lebensentwürfe in den letzten Jahrzehnten entscheidend geändert haben, sehen die Grundrisse noch immer aus, so die Süddeutsche Zeitung, als säße die gesamte Nation weiterhin samstags gemeinsam auf dem Sofa, um „Wetten dass...?“ zu sehen.[vii] Bei der Zeichnung ¡Esta Bonito! ¿Es peligroso? – ¡Como no! überlagern konturlose Aquarellfarben die klaren Formen des Grundrisses. Der Farbeinsatz durchbricht Umrisse und Abgrenzungen und steht als Ausdruck individueller Energie für die ungenutzten Kapazitäten des in seine Schranken gewiesenen Menschen. Starre Ordnungen und sanktionierte Schönheitsideale sind nicht harmlose Neigungen des individuellen Geschmacks, sondern werden dann zur Gefahr, wenn sie den Blick für das Wesentliche trüben.

 

Kittelschürzen (2007)

Die Fotoserie Kittelschürzen zeigt eine Frau mittleren Alters, gekleidet in Hausschuhe und Kittelschürze, im Umfeld einer sonst leeren Wohnung. Die farbfrohen Muster ihrer häuslichen Bekleidung korrespondieren in seltsamer Weise mit den sie umgebenden Mustertapeten. Hartmut Wagner schrieb zu dieser Arbeit: „Bildet sie mit ihrer Küchenschürze einen Teil ihres eigenen Hintergrundes? Befindet sie sich inmitten einer Metamorphose, die sie von einem dreidimensionalen Menschen zu einem in die Tapete integrierten zweidimensionalen Phänomen mutieren lässt? [...] Das zum Bild minimierte menschliche Individuum verschwindet, der Mensch als Subjekt wandelt sich zum Objekt in einem leeren Raum.“[viii] Die Leere der Wohnung betont die heimische Normierung und Funktionalisierung der Frau als Hausfrau. Sie ist ganz und gar Teil eines Herrschaftssystems, in dem Bequemlichkeit, Ordnung und Sättigung als unwiderlegbare Beweise des allgemeinen Wohls gelten. Für die kritische Theorie der 1960er Jahre bestand die reine Form der Knechtschaft des Menschen darin, als Instrument und Ding zu existieren. Die Tatsache, dass das belebte Ding sein Dingsein nicht einmal empfindet, wenn es als „ein hübsches, sauberes, mobiles Ding“ existiert, wurde als Zeichen der erschreckenden Abstumpfung gewertet.[ix] Die Hausfrau von heute scheint weit davon entfernt zu sein, sich morgens in ihre geblümte Schürze zu kleiden, um das Frühstück für Ehemann und Kinder in der passend tapezierten Küche zu bereiten. Mitleidig schaut man auf die 1950er Jahre zurück und ist darüber erleichtert, dass mit Designer-Outlet und Ikea heute alles besser als früher ist. Im Kern jedoch hat sich wenig geändert, da individuelles Denken und Wünschen weiterhin im hohen Maße gesellschaftlich bestimmt werden. Der Mensch hastet ermattet seinem selbst geschaffenen Warenparadies hinterher und bemüht sich, so gut es geht, in der Makellosigkeit seiner Umgebung nicht allzu negativ aufzufallen. Das Leben in der Kittelschürze ist eben nicht nur eine Frage der Kleidung.

 

Sich um die Pilze kümmern (2010)

Sich um etwas oder jemanden kümmern resultiert aus einem Gefühl der Sorge, dass ohne Zuwendung ein Zustand stagnieren oder sich gar verschlechtern könnte. Kinder und Haustiere sind klassische Empfänger des selbstlosen Beistands. Auch hört man nicht selten von Menschen, die sich um Wäsche, Haare oder gar Fußnägel kümmern wollen. Altruistischen Kummer deutet man allgemein als positiven Charakterzug in einer Welt, die zunehmend egoistischer zu werden scheint. Undankbar sind jene, die fremde Hilfe, selbst wenn sie ihnen ungebeten zuteil wird, nicht zu schätzen wissen, oder diese gar ablehnen – schließlich wollte man nur helfen und das kann nicht verkehrt sein.

Allein in einem abgelegenen Waldstück befindet sich der nur in einen OP-Kittel gekleidete Mann bei Sich um die Pilze kümmern und schenkt gedankenversunken seine ganze Aufmerksamkeit den Pilzen des Waldes. Sorgsam prüft er den Gesamtbestand und widmet sich besorgt einzelnen Exemplaren, die entweder etwas abseits stehen oder ihm besonders pflegebedürftig erscheinen. Obwohl keimfreie Bekleidung bei der Arbeit am Waldboden wenig Sinn ergibt, tritt seine merkwürdige Aufmachung in den Hintergrund der Aufmerksamkeit: Der Kittel harmoniert farblich mit den dichten Moosflächen und Blättern und zudem erinnert sein bedachtes Vorgehen an den gezielten Eingriff eines versierten Mediziners. Wie auch bei medizinischen Behandlungen bleibt das Ziel des Einsatzes dem Laien nicht selten verborgen - gesammelt wird hier jedenfalls nicht. Obwohl Pilze häufig zur Familie der Pflanzen gezählt werden, sind sie tatsächlich viel enger mit den Tieren verwandt. Nur die überirdischen Fruchtkörper fallen ins Auge, doch der größte Teil des Pilzes wächst unterirdisch. Dort wuchert manchmal ein riesiges Pilzgeflecht, dessen Größe anhand der überirdischen Auswüchse nur erahnbar ist. Die ungewöhnliche Sorge des Mannes um die zurückgezogen lebenden Pilzkolonien, die wahrscheinlich größtenteils noch nicht einmal genießbar sind, wirft Fragen darüber auf, welche Handlungen allgemein als nützlich und gewinnbringend anerkannt sind. Pilze sammelt man, um sie zu essen, im Wald läuft man, um sich fit zu halten, den Garten pflegt man, um einen gepflegten Garten zu haben – ein Verlassen dieser vorgegebenen Pfade ist gesellschaftlich weder gewünscht, noch wird es ohne Weiteres geduldet, da es das sichere Gerüst unserer Vorstellung von Welt ins Wanken bringen könnte.

 

Darüber reden wir noch (2005-2009)

Die Fotoperformance Darüber reden wir noch, die an verschiedenen Orten und auf verschiedenen Kontinenten realisiert wurde, besteht aus Portraits von Menschen, die sich im Gespräch mit sehr privaten Gefühlen auseinandersetzen. Für diese persönlichen Bereiche bieten gesellschaftliche Konvention und Prägung kaum Artikulationswege und so zeigen Mimik und Gestik, wie stark das Ringen mit tabuisierten Themen selbst körperlich belastet. Nachdrücklich demonstriert die Arbeit, dass auch individuelles Denken, Hoffen und Fürchten, wie es Marcuse einmal ausdrückte, gesellschaftlicher Bestimmung unterliegen.[x] Das Betrachten der Arbeiten weckt, obwohl die Inhalte der jeweiligen Gespräche nicht vermittelt werden, ein tiefes Verständnis für die Prozesse der Auseinandersetzung. Es geht eben nicht um die voyeuristische Konsumfreude an den Empfindungen Dritter, die Distanz schafft, sondern um einen ungewohnten Kontakt auf Augenhöhe, der die unbekannten Menschen einem nahe bringt. In dieser Öffnung gesellschaftlich gehemmter Persönlichkeitsbereiche äußert sich eine fundamentale Auflehnung gegen erdrückende Interaktionskonventionen.

Man könnte diesen Umstand, wie Rancière, noch stärker formulieren und behaupten, dass es sich nicht bloß um mehr oder weniger feste Konventionen handelt, sondern Gesellschaft durch eine starre „Aufteilung des Sinnlichen“ strukturiert ist. Körpern werden Identitäten zugewiesen, die festlegen, was sichtbar und sagbar beziehungsweise unsichtbar und unsagbar ist. Diese Aufteilung ist immer durch eine rigide Ordnung gekennzeichnet, die Gesellschaft in einer bestehenden Form stabilisiert. Wahrnehmung von Welt ist abhängig von den sozialen Funktionen, Tätigkeitsformen und Weisen zu sprechen, die Individuen zugeordnet sind.“[xi] Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik scheitert nicht selten schon an der mangelnden Übereinkunft, was unter den Begriffen der Politik oder des Poltischen zu verstehen ist. Mia Unverzagt testet mit ihrer Kunst gesellschaftliche Ordnungen, pointiert sie oder kehrt sie in ihr Gegenteil. Sie stellt die Aufteilung des Sinnlichen in Frage - die Konfrontation von natürlicher Gleichheit und gesellschaftlich bestimmter Ungleichheit erweckt manchmal Unbehagen, da sich andersartige Erfahrungsräume öffnen. Politik ist, so Rancière, der Konflikt um die Frage, welche Subjekte am „spezifischen Raum der gemeinsamen Angelegenheiten“ teilhaben und welche nicht.[xii] Kunst ist politisch, wenn sie zur Austragung dieses Konflikts beiträgt. Es muss sowohl um das Ganze als auch um die Teile gehen, die das Ganze zugleich bestimmen und von ihm bestimmt werden.

 

 


[i] Vgl. Held, Jutta: Einführung: Politische Kunst – Politik der Kunst, in: Frohne, Ursula; Held, Jutta (Hg.): Kunst und Politik: Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft, Band 9/2007, Göttingen 2008, S. 9-13, hier: S. 11.

 

[ii] Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (Orig. One-Dimensional Man: Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society, Boston, Mass. 1964), hg. von Maus, Heinz; Fürstenberg, Friedrich, Neuwied und Berlin 1967.

 

[iii] Vgl. Rancière, Jaques: Ist Kunst widerständig? (Orig. Si l`art résiste à quelque chose?, Fortaleza, Brasilien 2004), hg. von Ruda, Frank; Völker, Jan, Berlin 2008, S.11. Rancière formuliert diesen Gedanken in Auseinandersetzung mit den Schriften von Gilles Deleuze und Félix Guattari.

 

[iv] Rancière 2008, S. 18.

 

[v] Vgl. Marcuse 1967, S. 25.

 

[vi] Vgl. Marcuse 1967, S. 54.

 

[vii] Vgl. Süddeutsche Zeitung, 25./26. Juni 2011, Nr. 144, S. 13.

 

[viii] Wagner, Hartmut: Kittelschürzen, in: Sproutbau, hg. von Team N; Vogelsang, Christina, Bremen 2009, S. 62-63.

 

[ix] Vgl. Marcuse 1967, S. 53.

 

[x] Vgl. Marcuse 1967, S. 16.

 

[xi] Vgl. Rancière 2008, S. 95-96.

 

[xii] Vgl. Rancière 2008, S. 77.

 


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