Nicht ganz wie beim Chinesen an der Ecke
Westlicher Umgang mit nicht-westlicher Kunst:
Kunsthistorische und kunstkritische Schwierigkeiten
Zeitgenössische Kunst aus China an der Biennale von Venedig, Kunst aus Südafrika in Zürich, junge Kunst aus Japan in Baden-Baden, "Cuba 2000" in Paris, die ganze Welt an der Biennale von Lyon und wenig später "Die Kunst der Welt in Paris"... Seit rund zehn Jahren sieht sich das Publikum in Europa in grösseren und kleineren Ausstellungen immer stärker mit zeitgenössischen künstlerischen Positionen aus Ländern konfrontiert, die nicht zum sogenannten Westen gehören, die nicht zu den europäisch-nordamerikanischen Industrienationen zählen.
Kunsthistorische Schwierigkeiten: Die irritierende Vertrautheit des "Anderen"
Völlig fremd ist uns diese Kunst der "Anderen" meistens nicht ? die Gefühle, die sie in uns auslöst, müsste man eher als seltsam zwiespältig bezeichnen. Das hat weniger damit zu tun, dass uns diese Kunst völlig unverständlich wäre. Was uns vielmehr befremdet ist, dass diese Kunst der "Anderen" in den ihr zugrundeliegenden Haltungen, in den Strategien und auch den Medien oft unübersehbar mit unserer westlichen Produktion verwandt ist, dass sie gleichzeitig aber vor dem Hintergrund von Traditionen entsteht, die mit unserer westlichen Tradition kaum etwas gemein haben.
Die klassische Moderne formulierte zwar einen universellen Anspruch, ja behauptete zeitweise gar, eine universelle Sprache zu sein, sie war aber (sieht man von wenigen Ausnahmen wie Japan ab) ein vorrangig europäisches Phänomen, das nach dem Zweiten Weltkrieg seine vielleicht fruchtbarste Fortsetzung in den Vereinigten Staaten fand. Natürlich gab es in verschiedenen Regionen dieser Welt Entwicklungen, die parallel zur europäisch-nordamerikanischen Moderne vergleichbare Phänomene hervorbrachten. Viele der Künstler aber, die heute in den grossen Ausstellungen des Westens als nicht-westliche Künstler vertreten sind, stammen aus Ländern, die über keine vergleichbare Tradition verfügen.
Da wir im Westen dazu neigen, unsere aktuelle Kunstproduktion, unsere Begriffe und Strategien auch als Folge der Kunst der Moderne zu betrachten und so eine mehr oder weniger konsequente, mehr oder weniger konzise Geschichte konstruieren, muss uns eine Kunst verstören, die vor dem Hintergrund von ganz anderen Traditionen zu doch oft sehr ähnlichen Resultaten kommt. Dass wir in Europa ein unscharfes Foto oder eine Auslegeordnung von alltäglichen Plastikteilen als Kunst akzeptieren, hat vor dem Hintergrund unserer Kunstgeschichte eine gewisse Logik, nicht aber vor dem Hintergrund der kulturellen Geschichte Thailands oder Ghanas. So jedenfalls stellt es sich für uns hier im Westen dar ? und wir werden in dieser vielleicht ja falschen Einschätzung durch den Umstand bestärkt, dass die zeitgenössische Kunstproduktion nicht-westlicher Provenienz in den jeweiligen Herkunftsländern oft keinerlei oder bloss einen marginalen Rückhalt hat.
Kunsthistorische Schwierigkeiten: Reaktionen auf die Vertrautheit des "Anderen"
Wie nun können wir auf diese irritierende Ähnlichkeit des "Anderen" reagieren? Wir können eine Art von Anbiederung wittern und argwöhnen, dass sich die nicht-westlichen Künstler westlicher Strategien bedienen, um sich auf dem reichen westlichen Markt zu positionieren. Wir können auch annehmen, dass wir die Welt in unseren post-kolonialen Zeiten doch noch mit einem westlichen Kunstbegriff kolonisiert haben. Vielleicht akzeptieren wir auch einfach, dass sich gewisse Kunstbegriffe und Strategien, deren Ursprung wir im Westen wähnen ? aus welchen Gründen auch immer ? als so tauglich für die Thematisierung menschlicher Probleme, Sehnsüchte und Bedürfnisse erwiesen haben, dass sich zwar keine universelle Sprache, aber eine Art universeller Methode daraus hat entwickeln können.
Oder aber wir müssen an der Richtigkeit unserer westlichen Kunstgeschichte zweifeln und eine neue Geschichte schreiben. Diese könnte zum Beispiel beim bekannten Einfluss nicht-westlicher Kunst auf die Moderne ansetzen, sie könnte einen informations-technisch bedingten Ausfluss westlicher Positionen, Elemente und Begriffe in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg konstatieren und schliesslich den allmählichen Zusammenfluss des Westlichen und des Nicht-Westlichen in den letzten zehn bis zwanzig Jahren feiern: die Auflösung der westlichen Vorherrschaft im Bereich des Ästhetisch-Künstlerischen zu Gunsten einer neuen, globalen Kunstfruchtbarkeit. Einfluss, Ausfluss, Zusammenfluss - was für eine rührende Geschichte.
Kunsthistorische Schwierigkeiten: Der "Bruch" der Moderne als Voraussetzung
Viele der Schwierigkeiten, die wir bei der Entwicklung einer Haltung gegenüber einer nicht-westlichen Kunstproduktion haben, resultieren aus der zentralen Bedeutung, die in unserer westlichen Kunstgeschichte dem "Bruch" der Moderne zukommt. Wir fragen uns also, ob nicht-westliche Länder heute in Sachen Kunst einen Autonomisierungs-, einen Säkularisierungs- oder Befreiungsprozess durchmachen, der sich bei uns vor rund 150 Jahren abspielte? Tatsächlich betrachten wir in unseren Kunstgeschichten den Wechsel von einer die Natur imitierenden oder repräsentierenden Kunst in die Abstraktion auch heute noch als den entscheidenden Schritt in die künstlerische Moderne - die diversen Cézanne-Ausstellungen, die in jüngster Zeit das prä-kubistische und prä-abstrakte Genie dieses Malers zum wiederholten Male in ein vielbeachtetes Licht rückten, haben das illustriert. Nun aber war die möglichst lebensnahe oder lebenswirkliche Wiedergabe einer gegenständlichen Welt durch die Kunst, die mit der Moderne in Zweifel gezogen wurde, lediglich im Westen während einer gewissen Zeit das Mass aller Dinge in der Kunst. Bei den Fragen, die sich daraus ergeben, interessieren weniger jene nach dem Einfluss aussereuropäischer Kunst auf die Exponenten der klassischen westlichen Moderne. Vielmehr drängt sich hier die Frage auf, ob wir nicht heute diesen für uns so wichtigen "Bruch" der Moderne als Voraussetzung schlechthin für die Möglichkeit der Produktion zeitgenössischer Kunst ansehen - und damit einen Entwicklungsschritt weltweit zum Massstab erheben wollen, der vielleicht nur für unsere westliche Kultur so entscheidend war.
Vor diesem Hintergrund und angesichts unserer Verwirrung vor der Welt gibt es sicher einen Bedarf, die Kunstgeschichte dieses Jahrhunderts neu zu schreiben oder zumindest um einige Elemente zu ergänzen. Dies erneut aus einer westlichen Perspektive zu versuchen, wie es derzeit in einigen Projekten in Europa und den USA versucht wird, macht indes wohl eher wenig Sinn. Es ist an den Ländern der nicht-westlichen Welt, diese neue Kunstgeschichte zu schreiben, die ja ? wer weiss ? vielleicht gar keine Kunstgeschichte in unserem westlichen Sinn mehr sein wird. Wir hier im Westen sollten hierfür vielleicht Mittel bereitstellen, wir könnten Zusammenarbeit anbieten, vielleicht auch fruchtbare Formen von Streit suchen. In jedem Fall aber sollten wir eindeutige Positionen einnehmen, die vor unserem kulturellen Hintergrund verständlich sind ? ein möglichst klares Gegenüber sein.
Kunstkritische Schwierigkeiten: Ein Mangel an Kriterien
Für den Kritiker, den Theoretiker im Westen stellen sich aber auch Probleme wenn er auf den grossen historischen Bogen verzichtet und nur im kleinen Bereich der Auseinandersetzung mit einzelnen Positionen operiert - ganz pragmatische Schwierigkeiten also. Aufgabe des Kritikers ist es, Kunst nicht nur zu beschreiben, sondern auch einzuschätzen, zu beurteilen. Dafür braucht es ? zumindest wenn man sich nicht damit begnügen will, Unverständliches oder Euphorisches in die Welt zu setzen ? Kriterien. Der westliche Kritiker nun aber hat seine Kriterien aus den Diskursen der Moderne abgeleitet und diese sind damit die Folge einer ganz bestimmten Geschichte, einer Auffassung von Welt und eines Alltags. Begegnen wir nun aber Positionen aus nicht-westlichen Ländern, so resultiert diese Kunst oft ? auch wenn sie in ihrer Haltung und ihren Strategien mit unserer westlichen Produktion verwandt ist ? aus einer komplett anderen Geschichte, einer anderen Auffassung von Welt und vor allem einem gänzlich anderen Alltag.
Prinzipiell gibt es für den westlichen Kritiker drei Möglichkeiten, auf diese "andere" Kunst zu reagieren. Erstens kann er die Kunst nicht-westlicher Provenienz stur nach jenen Kriterien beurteilen, die aus den Diskursen der Moderne hervorgegangen sind und die er an den Entwicklungen der europäisch-nordamerikanischen Kunst geschärft hat. Das führt zu Vergleichen und fast immer dazu, dass man ganz allgemein die künstlerische Leistung eines nicht-westlichen Kunstwerks zwar - schliesslich ist man ja grosszügig im Umgang mit den "Anderen", die fast immer auch die Ärmeren sind - gnädig akzeptiert, ihre Erfindungsleistung aber schmälert oder auch negiert indem man aufzeigt, wo etwas sehr ähnliches natürlich viel früher auch schon in der westlichen Kunst gemacht worden ist.
Die zweite Möglichkeit, die der westliche Kritiker ergreifen kann, besteht darin, sämtliche Kriterien aufzulösen und die eigene Position zu thematisieren: Das gibt einem die Möglichkeit, sich selbst in grosszügiger Weise das Recht abzusprechen, als weisser Mitteleuropäer überhaupt irgendetwas über das Werk eines schwarzen Südafrikaners oder einer Chinesin zu sagen ? geschweige denn ein Qualitätsurteil zu fällen. Da die meisten Kritiker peinlichst darauf bedacht sind, bloss nichts zu schreiben, das irgendwann als falsch betrachtet werden könnte, ist das derzeit eine sehr verbreitete Praxis.
Kunstkritische Schwierigkeiten: Das Entwickeln spezieller Kriterien für das "Andere"
Die dritte Möglichkeit schliesslich besteht darin, neue Erwartungen zu entwickeln - spezielle Kriterien, nach denen wir die Kunst der "Anderen" beurteilen. Und natürlich können das keine Kriterien sein, die wir aus dem Umgang mit unserer eigenen Kunst im Westen entwickeln, sondern es sind Kriterien, die wir aus unserem Wissen über die Verhältnisse in den Ländern der "Anderen" gewinnen. Viele dieser Länder sind in schwierigen sozialen und politischen Situationen - bedingt durch Diktaturen, Armut, Embargos, Kriege, Unterdrückung etc. Also haben wir das Gefühl, die Künstler dieser Länder müssten solche Themen in ihren Arbeiten aufnehmen, sich politisch oder sozial engagieren, möglichst kritisch sein gegenüber den Regierungen ihrer Länder oder zumindest feministisch, also kritisch gegenüber den Männern ihrer Länder. Auch eine kritische Haltung gegenüber der Rolle, die der Westen in diesen Ländern spielt, können wir akzeptieren.
Die grundsätzliche Haltung, die wir da gegenüber Kunst aus nicht-westlichen Ländern einnehmen, unterscheidet sich kaum von der Haltung, die wir ? wenn auch vielleicht weniger bewusst ? gegenüber Kunst aus dem Westen einnehmen: In beiden Fällen haben wir den Anspruch, die Kunst müsse zu einer Verbesserung dieser Welt und des Lebens auf diesem Planeten beitragen. Während wir aber der Kunst aus dem Westen ein schier grenzenlos weites Feld für Verbesserungen einräumen (von philosophischen Verbesserungen bis zu ästhetischen, von Verbesserungen im sozialen Bereich bis zur Verbesserung unserer Partykultur), engen wir das Feld für Künstler aus nicht-westlichen Ländern tendenziell ein ? weniger aus Unwissenheit oder aus einem Gefühl der kulturellen Überheblichkeit heraus, sondern schlicht weil wir davon ausgehen, dass die Menschen in diesen Ländern dringende Probleme haben und die Kunst ergo von diesen dringenden Problemen handeln muss. Alles andere halten wir für eine Art von Luxus und das macht uns Mühe - vielleicht auch, weil wir ab und zu etwas für irgendwelche Hilfsprojekte in diesen Ländern spenden und es uns folglich irritiert, wenn diese Länder dann in der Kunst auf Luxus-Produktion setzen.
Dass wir damit das Feld einengen, auf dem wir nicht-westliche Kunst als Kunst akzeptieren können, ist das eine. Da die meiste nicht-westliche Kunst aber bis heute auf Unterstützung aus dem Westen angewiesen ist, im Westen ihre Foren hat und oft auch vorwiegend im Westen verkauft werden kann, engen wir damit gleichzeitig auch das Aktivitätsfeld dieser Künstler ein und zwingen sie ? oft mit Erfolg ?, unsere Erwartungen zu bedienen. Indem wir eine solche Haltung gegenüber nicht-westlicher Kunst einnehmen, deklarieren wir übrigens indirekt einen Grossteil unserer westlichen Kunstproduktion als Luxusangelegenheit.
In einem Fall allerdings akzeptieren wir auch einen Verzicht auf soziales Engagement: Dann, wenn uns die Künstler mit exotische Reizen verwöhnen und uns einen wunderbar fremden Zauber vorgaukeln. In diesen Fällen fühlen wir uns auf eine angenehme Weise inkompetent - genau wie wenn wir beim Chinesen an der Ecke, feierabendlich eingelullt in den Singsang einer glockenhellen Stimme, unsere Nudelsuppe schlürfen. Ganz frei von Misstrauen ist das jedoch nicht: Beim Chinesen an der Ecke wissen wir, dass er mit dem ganzen exotischen Kitsch die Bedürfnisse seiner Kundschaft befriedigt - bei der Kunst haben wir manchmal den Verdacht und fühlen uns schon allein deshalb genötigt, die Sache nicht ganz ernst zu nehmen.
Was aber können Kritiker hier im Westen angesichts von nicht-westlicher Kunst tun, wenn ihnen die Kriterien davonschwimmen und sie wissen, dass sie mit bestimmten Erwartungen die nicht-westliche Kunst in ein Korsett treiben? Sie können sich die Problematik bei der Rezeption nicht-westlicher Kunst zumindest immer wieder mal vor Augen führen und versuchen, sich die Kriterien für die Beurteilung einer Arbeit vom Werk selbst und den ihm eingeschriebenen Absichten und Zielen diktieren zu lassen. Wo das nicht gelingt, ist es wohl das ehrlichste, seinen eigenen Zweifeln Ausdruck zu geben und damit für das Publikum und die Produzenten immerhin eine Reibungsfläche zu bieten, einen Ansatz zu Diskussionen zu liefern.
Samuel Herzog
September 2000