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                 Wer alles richtig macht, macht alles falsch

 

Messen, Wiegen und andere Handlungsanweisungen in der Kunst von Mia Unverzagt

 

In einer Ausstellung von Mia Unverzagt sollte immer alles seine Ordnung haben. Als ich zusammen mit der der Künstlerin ihre Schau im Künstlerhaus Göttingen ins Visier nahm, mit einem durch meine eigene kuratorische Tätigkeit hoffentlich geschulten Blick, hatte ich auch fast gar nichts zu bemängeln, außer im hinteren Raum links auf der rechten Wand. Ich sagte kurz und deutlich: „Das Bild hängt schief“, aber Mia hörte mich nicht, weil sie gerade nicht neben mir stand. Ich hatte auch nicht wirklich vor, die Korrektur dieses Fehlers zu empfehlen, und vielleicht hätte Mia auch sofort bemerkt, dass die Formulierung meines Kritikpunktes bewusst so gewählt war, um sie als Zitat kenntlich zu machen. Denn „Das Bild hängt schief“ beteuert Loriot in einem seiner brillantesten Sketche, nachdem er in die Einrichtung eines Zimmer, in dem er auf einen Termin wartete, in einen Zustand totaler Verwüstung gebracht hat. Der gut gemeinte Versuch, ein an der Wand hängendes Gemälde richtig auszurichten, löste eine verhängnisvolle Kettenreaktion aus. So etwas wollte ich nicht riskieren und rührte das nicht ganz gerade ausgerichtete Bild lieber nicht an. Besser alles andere hat seine Ordnung und ein Foto hängt ein klein bisschen schief. Dass die Ausstellung von Mia Unverzagt bei mir sofort Erinnerungen an den bekanntesten deutschen Humoristen seit dem Zweiten Weltkrieg weckte, scheint mir kein Zufall zu sein. Hat doch Loriot wie kein anderer die mitunter gewisse Steifheit von uns Deutschen und einen übertriebenen Korrektheits- und Ordnungssinn aufs Korn genommen, der dazu führen kann, dass zwei bis dahin gut befreundete Familien sich bei einem gemeinsamen Essen im Restaurant unrettbar darüber entzweien, dass der nur noch einmal statt zweimal servierbare Kosakenzipfel nicht ganz brüderlich korrekt aufgeteilt wurde, denn auf einmal ist das oben auf ihm liegende Zitronenbällchen nicht mehr da. Loriots Humor steht auch historisch genau für die Zeit, in der Mia Unverzagt geboren wurde. Die noch von großen Teilen der Nachkriegsgeneration getragenen guten alten Werte von Recht und Ordnung waren zwar noch vielerorts wirksam, wurden aber von den 68ern radikal in Frage gestellt. Für die gute alte Zeit stehen auch zahlreiche von der Künstlerin zusammengetragene Lehrbücher mit Schautafeln und Anweisungen, wie man etwas ordentlich und richtig macht. Hier wird der Vergleich von Ordnung und Unordnung anschaulich vor Augen geführt oder ein grafisches Schaubild zeigt uns, wie die verschiedenen Utensilien korrekt in den Werkzeugschrank einzuordnen sind. Wenn Mia Unverzagt solch eine Darstellung in eine Stickerei überträgt, wirkt das wie eine Strafarbeit, die einem das richtige Sortieren noch einmal so richtig in den Schädel einprägen soll. Stick-, Strick- und Häkelarbeiten galten einst als typisch weibliche Tätigkeiten, und in der Schule wurde die ansonsten weitgehend aufgehobene Geschlechtertrennung weitergeführt, wenn die Mädchen einen Handarbeitsunterricht bekamen und die Jungs „werken“ duften, als ob man dort seine Hände nicht benutzt... Nicht zuletzt als ironische Volte gegen das Nicht-Ernst-Nehmen von Frauen in einer noch von Männern dominierte Kunstwelt führte Rosemarie Trockel in den 1980er Jahren das feminine Stricken offensiv in die „große Kunst“ ein. Gleichzeitig wird die „große Kunst“ ironisch auf den Boden alltäglicher Tatsachen heruntergezogen. Dies geschieht bei Mia Unverzagt, wenn sie aus einer Darstellung des Fiebermessens eine Metallskulptur herstellt, die eine Ähnlichkeit zwischen den Lehrbuchdarstellungen der Nachkriegszeit und damaligen Formen abstrakter Kunst suggeriert. Mit ihrem Sinn für die absurden Abgründe alles Gründlichen und Ordentlichen wählte Mia Unverzagt für eine ihrer Stickereien auch ein Motiv aus, das in dieser Form nur noch surreal wirkt. Die Vorführung dessen, was man beim Fotografieren alles falsch machen kann, lässt sich kaum noch veranschaulichen, wenn die falsch gewählte Belichtung oder der Farbstich als bunte Fläche auf einem weißen Tuch erscheint. Versteht man aber dennoch, was uns die Schautafel zu lehren versucht, und betrachtet dann die großen Fotografien, die wir in fast allen Räumen dieser Ausstellung sehen, scheinen sie uns konsequent fast alle Fehler vorzuführen, die man als ordentlicher Fotograf vermeiden sollte. Die Motive sind unscharf, die Ausschnitte schlecht gewählt, die Personen angeschnitten, und vor allem bleibt ohne weitere Erläuterung völlig im Unklaren, was die auf den Fotos ihnen abgebildeten, blaue Kittel tragenden Menschen überhaupt tun. Es handelt sich um eine Reihe von Fotoperformances, zu der Mia Unverzagt verschiedene Menschen, so Studenten der Bremer Kunsthochschule, ihren künstlerischen Assistenten und eine ihrer Töchter eingeladen hat. Im Fall von „MESSEN – WIEGEN - ORDNEN“ handelt es sich um einen Raum, in dem sich neben Bergen von Kleidungsstücken, Stoffen und Dingen auch eine größere Anzahl von Gegenständen und Instrumenten befindet, die man zum Messen und Wiegen verwenden kann. Nach dem die Teilnehmer_innen sich aus einer überschaubaren Menge von Hauskleidern aus den 1940-70er Jahren etwas ausgewählt haben, was sie tragen wollen, hat die Künstlerin sie gebeten, die im vorbereiteten Raum vorhandenen Dinge zu messen, zu wiegen und zu ordnen. Außer den Rahmenbedingungen, die die Künstlerin gesetzt hat, gab es jedoch keine Anweisungen, was genau in diesem Zeitraum zu tun war. Dabei hat Unverzagt ihre Mitspieler_innen während mehrerer Stunden mit einer analogen Spiegelreflexkamera begleitet. Aber was ist überhaupt eine „Fotoperformance“? Unter einer Performance versteht man gemeinhin eine künstlerische Aktion, die vor einem Publikum stattfindet und die für die Nachwelt eventuell fotografisch oder filmisch dokumentiert wird, wie etwa viele der Aktionen von Joseph Beuys, von denen wir ansonsten nur vom Hörensagen wüssten. Aber es gibt auch Performances, die ohne Publikum stattfinden, so dass außer en Künstlern selbst und den direkt Beteiligten niemand das direkte Ereignis erlebt hat, sondern die filmische Dokumentation das eigentliche Kunstwerk ist, das dem Publikum vorgeführt wird. Dies gilt für zahlreiche Selbstinszenierungen, die Bruce Nauman oder Vito Acconci um 1970 ganz allein in ihren Ateliers machten und auf Video festhielten. Bei Mia Unverzagts Fotoperformances kann es schon mal Publikum geben, etwa wenn sie Männer, die geblümte Kittelschürzen aus der ehemaligen DDR tragen, an Führungen in Bremer Museen und Ausstellungshäusern teilnehmen lässt und das fotografiert. Doch diese Aktionen, auf denen Mia Unverzagts Beitrag zur Sonderausstellung des Bremer Kunstfrühlings 2014 basierte, wurden dem Publikum nicht angekündigt. Sie waren gleichsam nur das Material, das dann für die Ausstellung der Fotografien verarbeitet wurde. Ähnlich verhält es sich hier. Dass die „Dokumentation“ der Aktion eigentlich fotografisch verunglückt erscheinen mag, ist natürlich Absicht. Denn dass wir eigentlich keinerlei „verwertbare“ Information darüber erhalten, was die Personen genau tun, hat damit zu tun, dass die Fotos nicht den “richtigen“ Rahmen liefern. Und wenn sie es zu tun scheinen, werden unsere Neigung an der Nase herumgeführt, bei nebeneinander hängenden Fotos automatisch räumliche Kontinuitäten herzustellen. Direkt neben den Bildern der Performances hängen Fotos von Räumen, auf denen keine Menschen zu sehen sind. Es handelt sich allerdings um ganz andere Räume, die nichts mit dem Schauplatz der Performance zu tun haben. Eine Fotografie bildet die Welt nicht automatisch ab, sondern was es zeigt, hängt von der Wahl des „richtigen“ Standpunktes, der richtigen Tiefenschärfe und des richtigen Ausschnitts ab. Ansonsten fällt das Bild im wahrsten Sinne des Wortes „aus dem Rahmen“, und das gilt nicht nur formal, sondern auch sozial. Der Frage, wie unser Leben und die Gesellschaft, in der wir leben, von sozialen Regeln und Rahmen geprägt ist, geht Mia Unverzagt in ihrer Kunst immer wieder nach. Es ist eine Frage, die auch Gegenstand vieler wissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist. Etwa haben amerikanische Soziologen wie Erving Goffman und Richard Sennett untersucht haben, wie Rahmen „frames“ oder Skripte unser Sozialverhalten prägen und regeln. Die ordnenden „Drehbücher“ für den Film des Lebens sind nicht mehr die gleichen wie in den 1960er Jahren. Die Belehrungen von damals kommen uns heute antiquiert und lächerlich vor. Aber Mia Unverzagt stellt uns mit ihrer Vorführung implizit auch die Frage, ob die Anweisungen, die unser Leben heute regeln, nicht genauso klischeehaft und strikt sind, nur dass wir uns dessen oft nicht bewusst sind. Wir fallen aus dem sozialen Rahmen, wenn wir politisch nicht korrekt sind. Wir werden in jedem Hotelzimmer freundlich belehrt, dass das zu häufige Waschen von Handtüchern die Umwelt unnötig belastet. Und als Nichtraucher freue ich mich zwar über rauchfreie Kneipen, finde es aber trotzdem absurd, dass Raucher ständig darüber belehrt werden, wie schädlich ihr Laster ist und dass es zum Tode führen kann, als ob sie es nicht selbst wüssten und trotzdem rauchen. Wer nicht ökologisch korrekt lebt und nicht genug auf seine Gesundheit achtet, ist schließlich selbst schuld. Eine politisch korrekte Gesellschaft lehnt jede Verantwortung für ihn ab. Die Regeln, denen man sich anzupassen hat, sind jedenfalls nicht lockerer als früher. Und wer sich den Regeln der 68er-Elterngeneration widersetzen möchte, wird am besten das, was in deren Lebensrahmen die größte Unordnung darstellt: nämlich ein bürgerlicher Spießer zu sein. Das, was man als Ordnung oder Unordnung empfindet, ist also immer auch eine Frage des Standpunktes. Und vielleicht hängt nicht das Bild schief, sondern der Betrachter, der es gerade rücken will, liegt mit allem schief, denn das Resultat seiner Handlung versetzt alles in Unordnung. Diese „Botschaft“ steht hinter Loriots kleinem Sketch, aber auch hinter Mia Unverzagts gesamtem künstlerischem Universum.